Mut zur Lücke
Februar 2024 / 000 Wörter / Bild © Pexels Axp Photography
Fuge, Lücke, Riss, Spalt, Öffnung, Furche, Kerbe, Scharte, Unterbrechung, Zwischenraum, Abstand, Pause, Spalte, Riss, Loch, Schlitz, Einschnitt - wir kennen viele Worte für etwas, das nicht passt oder wo etwas fehlt, sich trennt. Es ist an der Zeit, das kreative Potenzial der Lücke zu entdecken.
Alles soll eigentlich lückenlos sein – unser Lebenslauf, die Stadtfassaden und selbst unser Gebiss. Doch wer hat nicht schon einmal Bedeutendes zwischen den Zeilen entdeckt oder sich nach einer Auszeit gesehnt? Die Pandemie hat uns gelehrt, dass Lücken und Pausen, selbst erzwungene, manchmal lebensnotwendig sind. Doch kaum etwas davon ist geblieben. Wir sind wieder eifrig dabei, jede entstandene Lücke so schnell wie möglich zu schließen. Während der Pandemie war Abstand unerlässlich, um gesund zu bleiben. Im Straßenverkehr brauchen wir ebenfalls mehr Abstand, um Unfälle zu verhindern. Doch sobald eine Lücke groß genug ist, wird sie geschlossen – daher haben wir sogar kleine Autos entwickelt, um kleinste Lücken auszufüllen. Kann eine Lücke auch etwas Positives haben? Interessanterweise hat die Schneidezahnlücke in unserer Kulturgeschichte oft als Symbol für Schönheit und Glück gedient. Eine Fuge hingegen bleibt immer offen, weil sie durch das Verwenden unterschiedlicher Materialien notwendig ist – eine konstruktive Lücke. Die musikalische Fuge lasse ich hier außen vor, da sie thematisch nicht passt. Die Vielzahl der Wortschöpfungen und Interpretationen ist ohnehin erstaunlich. Ich möchte mich jedoch auf den Spalt und die Lücke konzentrieren, denn diese beiden Begriffe eignen sich am besten, um ein Gestaltungskonzept zu beschreiben. Mich fasziniert der Raum dazwischen. Was geschieht, wenn wir diesen Raum freilassen – ihn weder bebauen noch zuschütten oder anderweitig nutzen?
Kreative beschäftigen sich von Berufs wegen mit der Schließung von Lücken. So überbieten sich Architekten mit kreativen Lösungen zur Schließung von Baulücken. Interessant ist dazu der Fachbeitrag „50 Jahre Bauen in Baulücken in Köln“ von Uta Winterhager im Magazin „moderneRegional“. Auch Studierende sollen sich schon in der Ausbildung mit der Nutzbarkeit von Lücken und Zwischenräumen auseinandersetzen. Die Kunsthochschule Halle Burg Giebichenstein forderte mit „Geh mal dazwischen“ angehende Industriedesigner dazu auf, brachliegende Leerstellen mit einem praktischen Nutzen und visuellen Reiz zu füllen. Sollten wir nicht anfangen, die Schönheit in der freien Lücke zu sehen? Genau, Mut zur Lücke. Vom Notwendigen oder Zufälligen zum Prinzip.
Als langjähriger Mitarbeiter der internationalen Designagentur Interbrand, davon mehrere Jahre unter der Leitung der Schweizer Designlegende Jörg Zintzmeyer, ist mir das Wort „Spaltmaß“ nicht entgangen. Ursprünglich ein deutsches Ingenieursprinzip hat es sich bei uns zu einer Hochachtung vor der Präzision in der Erarbeitung und Anwendung von Gestaltungsprinzipien entwickelt.
„Spaltmaß“ und „Mut zur Lücke“ sind Begriffe, die auf den ersten Blick in unterschiedlichen Kontexten verwendet werden, aber in der Gestaltung, sei es im Automobildesign, Grafikdesign oder Musik, überraschend ähnliche Prinzipien teilen.
Der Spalt und im Weiteren das Spaltmaß ist ursprünglich ein Fachbegriff aus dem Automobilbau und bezeichnet den Abstand zwischen benachbarten Bauteilen. Es handelt sich um präzise gefertigte Lücken, die das reibungslose Schließen von Türen, die sichere Verbindung von Karosserieteilen und die Minimierung von Windgeräuschen gewährleisten. Es geht um die präzise Passung von Teilen. In diesem Zusammenhang symbolisiert das Spaltmaß die Notwendigkeit von Genauigkeit und Präzision in der Konstruktion.
War das Spaltmaß vor allem eine ingenieurtechnische Anforderung, wurde im Laufe der Zeit deutlich, dass diese technische Notwendigkeit eine ästhetische Dimension hat. Die richtige Wahl des Spaltmaßes kann dazu beitragen, die Gesamtoptik eines Fahrzeugs zu verbessern und einen harmonischen Gesamteindruck zu erzeugen.
Der „Mut zur Lücke“ hingegen ist eher ein kreatives Konzept, das den bewussten Einsatz von Leerstellen oder Lücken in der Gestaltung beschreibt. In verschiedenen kreativen Disziplinen, sei es im Grafikdesign, in der Textgestaltung oder in der Musik, wird dieser Mut zur Lücke genutzt, um Raum für Interpretation und emotionale Resonanz zu schaffen.
Die Verbindung zwischen „Spaltmaß“ und „Mut zur Lücke“ liegt darin, dass das ursprünglich technische Konzept des Spaltmaßes in der Gestaltung eine kreative Wendung genommen hat. Designer verwenden bewusst Spaltmaße nicht nur als technische Anforderung, sondern als gestalterisches Element. Der Mut zur Lücke bedeutet in diesem Kontext, nicht nur die technische Präzision zu sehen, sondern auch die Leerstellen zwischen den Bauteilen als bewusst gestaltete Elemente wahrzunehmen, die die Ästhetik und Wirkung eines Designs beeinflussen.
Beide Begriffe reflektieren somit die Idee, dass Leerstellen, sei es im Automobildesign oder in anderen gestalterischen Bereichen, nicht zwangsläufig als Negativpunkt betrachtet werden sollten. Stattdessen können sie als Möglichkeit zur kreativen Entfaltung und als integraler Bestandteil des Gesamtkunstwerks betrachtet werden. In diesem Sinne kann der „Mut zur Lücke“ als Erweiterung des technischen Spaltmaßes in die kreative und ästhetische Dimension verstanden werden.
Automobildesign
Im Bereich des Automobildesigns ist das Spaltmaß zu einer Art kreativer Leinwand geworden. Designer setzen bewusst größere oder kleinere Spaltmaße ein, um bestimmte optische Effekte zu erzielen. Beispielsweise kann ein breiterer Spalt eine gewisse Robustheit und Solidität vermitteln, während ein schmalerer Spalt ein eleganteres und fließenderes Erscheinungsbild erzeugt. Die Kunst des Spaltmaßes liegt also nicht nur in der technischen Präzision, sondern auch in der gezielten Beeinflussung der Wahrnehmung des Betrachters.
Die Inspiration für die Berücksichtigung des Spaltmaßes als gestalterisches Element reicht weit zurück. Bereits in der Architektur des Bauhauses und im Industriedesign der 1950er Jahre wurde auf klare Linien und präzise Abstände Wert gelegt. Heute erinnert der Ansatz „Mut zur Lücke“ an die Idee, dass Leerstellen genauso wichtig sind wie das, was sie umgibt. In der Welt des Automobildesigns ermutigt der Mut zur Lücke dazu, Spaltmaße nicht als notwendiges Übel zu betrachten, sondern als bewusst gestaltete Elemente, die die Identität eines Fahrzeugs prägen.
Grafikdesign
In der Welt des Grafikdesigns ist das Spaltmaß vergleichbar mit dem Weißraum, der die visuelle Hierarchie und Lesbarkeit beeinflusst. Großzügig eingesetzte Leerräume können die Aufmerksamkeit auf bestimmte Elemente lenken, während präzise platzierte Spalten in Layouts die Struktur stärken. Der „Mut zur Lücke“ erlaubt es Designern, nicht nur mit Farben und Formen zu spielen, sondern auch mit dem Raum dazwischen, um ein ausgewogenes und ansprechendes Gesamtbild zu schaffen.
Layout/Textgestaltung
Auch bei der Textgestaltung spielt der Abstand eine entscheidende Rolle. Allerdings sollte man hier nicht von Spalten oder Lücken sprechen, denn Lückentext ist etwas anderes, sondern vom typografischen Weißraum. Nach dem Gestaltungsprinzip Form-Gegenform stellt die richtige Verteilung von Druckfläche und Weißraum eine gestalterische Herausforderung für den Designer dar. Ein gut gesetzter Weißraum verbessert die Lesbarkeit und erfordert weniger Konzentration beim Lesen.
Leerräume zwischen den Absätzen verbessern die Lesbarkeit und tragen zur effektiven Informationsvermittlung bei. Ein insgesamt größerer Zeilenabstand erleichtert das Lesen, insbesondere bei Bildschirminhalten. Der Leser wird eher zum Lesen animiert, wenn die erste Zeile eingerückt ist. Dieser Einzug gliedert längere Texte und vermeidet sogenannte Bleiwüsten. Zwischenüberschriften und Bildelemente sowie Zitate oder abgesetzte Textpassagen unterstützen den Leser beim Lesen und lockern den Text optisch auf.
Der bewusste Einsatz von Zwischenräumen schafft eine einladende Atmosphäre und führt den Leser mit Pausen und Betonungen durch den Text. Der „Mut zur Lücke“ eröffnet in der Textgestaltung Raum für Interpretation und emotionale Resonanz.
Architektur und Städteplanung
In Architektur und Städtebau wird der „Mut zur Lücke“ zum „Luxus der Lücke“. Denn meist geht es darum, Lücken zu schließen, zu verdichten und das Bauland optimal auszunutzen. Inmitten einer Welt des ständigen Wachstums und der Enge ist die gezielte Schaffung von Freiräumen eine mutige gestalterische Entscheidung, die nicht nur optische Entlastung bringt, sondern auch eine gesunde urbane Dynamik fördert. Dieser mutige Ansatz eröffnet die Möglichkeit, architektonische Kompositionen mit großzügigen Freiräumen zu schaffen, die nicht nur ästhetisch ansprechend sind, sondern auch die Lebensqualität und Funktionalität städtischer Räume fördern.
Die Dreidimensionalität von Architektur und Städtebau bietet Frei- und Zwischenräume in einer faszinierenden Dimension. Die vertikale Ausdehnung ermöglicht es, Freiräume nicht nur in der Horizontalen, sondern auch in der Vertikalen zu schaffen, sei es durch Innenhöfe, begrünte Terrassen oder geschickt gestaltete Gebäudezwischenräume. Der Blick nach oben schafft nicht nur optische Weite, sondern vermittelt auch ein Gefühl von Luftigkeit und Offenheit.
Musik und musikalische Komposition
In der Musik ist die Lücke vergleichbar mit den Pausen und der Ruhe zwischen den Tönen. Die Stille zwischen den Tönen ist genauso wichtig wie die Töne selbst. Musiker setzen die Kraft der Pause bewusst ein, um Spannung aufzubauen und Emotionen zu verstärken. Der „Mut zur Lücke“ in der musikalischen Komposition ermöglicht es, durch Rhythmus und Stille eine einzigartige Klangatmosphäre zu schaffen. Was zwischen den Tönen liegt, macht Musik lebendig und ausdrucksstark.
Und wie schon W.A. Mozart sagte: Die Musik steckt nicht in den Noten. Sondern in der Stille dazwischen.
In all diesen gestalterischen Bereichen wird der „Mut zur Lücke“ zu einem gestalterischen Werkzeug, das nicht nur leere Räume schafft, sondern sie bewusst nutzt, um eine Geschichte zu erzählen, Emotionen zu vermitteln und eine Verbindung zum Betrachter, Leser oder Zuhörer herzustellen. Die Kunst besteht darin, nicht nur das Vorhandene zu betrachten, sondern auch das, was dazwischen liegt, als integralen Bestandteil des Gesamtkunstwerks zu erkennen. Es ist der Raum zwischen den Elementen, der den Zauber der Gestaltung offenbart und den Betrachter oder Zuhörer einlädt, die Lücken mit eigenen Gedanken und Interpretationen zu füllen. // rb
Anmerkung:
Die Motivation, über dieses Thema zu schreiben, stammt aus meiner Zeit bei Interbrand. Der Automobilkonzern BMW war lange Zeit unser Kunde und das Spaltmaß ein wichtiges Maß im deutschen Automobildesign. Wir übernahmen das Wort auch in unsere Arbeit. Bei uns wurde das Spaltmaß zum geflügelten Wort und bezeichnete unsere Präzision in der Gestaltung.
Der Begriff „Mut zur Lücke“ wird auch in anderen Zusammenhängen verwendet. Zum Beispiel im Sinne von „nicht wissen müssen“, also der Mut zur Wissenslücke. Die damit verbundene Aufforderung, die eigene Unvollkommenheit zu akzeptieren, stammt aus dem Bereich der Pädagogik im Zusammenhang mit dem Begriff des „Exemplarischen Lernens“.
In unserem Artikel verstehen wir den Begriff als Aufforderung für das Schaffen von Lücken, Räumen und Freiräumen für eine bessere und ganzheitliche künstlerische Qualität. Die Lücke wird zu einem eigenständigen Element, zunächst unsichtbar und unhörbar. Wird man sich der Lücken bewusst, lernt man Weißraum zu sehen und Pausen zu hören. „Mut zur Lücke“ bedeutet nicht, die Lücke zu vergrößern, sondern sie bewusst zu setzen. Mut zur Lücke = Abstand schaffen, das unsichtbare sichtbar machen.
Der Begriff Lücke wird auch in Bezug auf uns Menschen und unser Sozialverhalten verwendet. Zitat: "Es gibt Menschen, die auf der Straße ständig angerempelt werden, auf deren Fragen niemand antwortet, auch wenn sie sie dreimal gestellt haben. Sie sind wie eine Leere, eine Pause, eine Lücke, eine Abwesenheit - sie sind unsichtbar. (Julia's Eyes, US-Thriller 2010).
Der Lückenbüßer ist etwas oder jemand, das oder der in Ermangelung von Besserem oder Geeigneterem für etwas verwendet wird.
Lückenfüller ist eine didaktische Methode, die Aufmerksamkeit von Schülern bei der Erarbeitung eines Textes zu erhöhen (Lückentext).